Jeden Montag treffen sich in der Begegnungsstätte im Haus der Generationen, der RBO – Inmitten gemeinnützige GmbH in Lichtenberg, um die zehn Menschen zum gemeinsamen Lesen und Proben. Die Arbeit der selbsternannten "AusErlesenden" wird durch eine öffentliche, szenische Lesung gekrönt. Der Workshop richtet sich gezielt an Menschen mit Behinderung, die eigentlich Lese- und Sprachschwächen besitzen. Der Besuch bei unserem geförderten Projekt macht jedoch im wahrsten Sinne des Wortes deutlich: Ausdruck kann gestärkt werden. Damit die „AusErlesenden“ zukünftig noch lauter & deutlicher werden, schafft sich das Projekt von unserer Förderung eigene Headsets an, sodass auch die Hände mitreden dürfen.
Wir werden schon freundlich erwartet. „Ihr seid doch die Biermacher!“ Nicht so ganz, Christine & ich stehen eher an der anderen Seite von Quartiermeister. Wir produzieren nicht das Bier, sondern wir geben das Geld aus. Umso wichtiger ist es dem Quartiermeister e.V., dass die Förderung auch die richtige Wirkung erzielt. Deswegen sind wir hier. Wir wollen uns ein Bild machen und werden im Laufe des Abends merken, dass uns ganz viele, andere (vorgefertigte) Bilder verloren gehen. Um einen runden Tisch sitzen fünf Menschen, die gerade von der Probe gekommen sind. Sie warten auf Sven. Sven ist seit einigen Wochen der Leiter der Lesegruppe, nachdem die Gründerin im Sommer unerwartet verstorben ist. Für „Die AusErlesenden“ ist der Todesfall ein riesengroßer (persönlicher) Verlust, aber man blickt nun gemeinsam in die Zukunft und in den neuen Text. Zuviel hat das Projekt bisher allen Beteiligten gebracht, Aufgeben gibt's nicht. Sven huscht durch die Tür dazu, hat einen ganzen Stapel Papier dabei und zitiert aus dem aktuellen Stück "Die Welt und wir", eine chaotische Nachrichtensendung aus einer immer chaotischer werdenden Welt. Irgendwie bekannt.
Die Lesegruppe ist mehr als eine Freizeitbeschäftigung, sie schafft Selbstvertrauen in das eigene Auftreten & Sprechen, sie stärkt nicht nur das Verständnis von Texten, sondern stärkt auch im Hinblick auf eigene Gefühle, Träume & Erfahrungen, die Teil der Erzählung werden. Hier kann jede*r so sein, wie er*sie ist, eben auch weil man sich verstellen kann. Claudia erzählt: "Früher war ich sehr schüchtern. Durch das gemeinsame Üben hat sich meine komplette Stimme verändert. Ich bin richtig laut geworden!". Laut werden… es gibt sicherlich wenig Bildungsformate mit diesem Ziel. Doch in diesem Projekt macht das Sinn. Sprachschwächen, für die sich zum Teil geschämt wird, werden nicht nur abtrainiert, sondern gleichermaßen als Teil seiner Selbst angenommen. Nicht ohne Grund handelte es sich bei der ersten Aufführung 2016 um das Stück "Schischyphusch" von Wolfgang Borchert (einer meiner liebsten, deutschen Autoren). Die Kurzgeschichte handelt von einem Kriegsversehrten, der aufgrund eines Kieferdurchschusses lispelt und in einem Gasthof einkehrt. Der Kellner des Lokals besitzt einen ähnlichen Sprachfehler. Beide gehen davon aus, der jeweils Andere würde das Gegenüber imitieren und sich über den Fehler lustig machen. Nach einer heftigen & langen Auseinandersetzung erkennen die beiden, dass sie Leidensgenossen sind. Ihr gemeinsamer "Fehler" macht sie zu Freunden.
Auch das gibt der Workshop den Teilnehmenden: Ein starkes Gruppengefühl, die Normalität in der Gemeinschaft. Petra war erst Zuschauerin, bis sie ihrem Sohn folgte und ebenfalls Mitglied der AusErlesenden wurde. Der Probenort, Begegnungsstätte im Haus der Generationen der RBO – Inmitten gemeinnützige GmbH hat seinen Namen jedenfalls voll und ganz verdient. Was es jetzt noch braucht, sind weitere Teilnehmer*innen und spannende Auftrittsorte in & um Lichtenberg. Bei Interesse & Kooperation könnt ihr euch direkt an die https://rbo-inmitten.berlin/ oder an hindemith@rbo-inmitten.berlin wenden!